Daniela Wyttenbachs achtjähriger Sohn ist hochsensibel. Das heisst, dass sein Gehirn alle Informationen ungefiltert reinlässt und sich dadurch ständig überreizt. Mittlerweile hat sie gelernt, mit seinen speziellen Bedürfnissen umzugehen. Dennoch ist die Situation nicht einfach. Um andere betroffene Eltern zu finden, gründet sie nun in Beihilfe des Berner Vereins eine Selbsthilfegruppe.

Ein Elternteil zu sein ist vermutlich die grösste Herausforderung, der wir uns im Leben stellen können. Vom einen auf den nächsten Augenblick hören wir auf, die wichtigste Person in unserem eigenen Leben zu sein. Stattdessen rückt ein kleines, hilfloses Geschöpf in den Mittelpunkt und verlässt diesen frühestens nach zwei Jahrzehnten. In dieser Zeit geben Mütter und Väter ihr Bestes, um ihren Sprössling zu einem gesunden und funktionierenden Menschen zu erziehen – das ist auch bei einem «normalen» Kind Knochenarbeit.
Dann gibt es aber Kinder, die an einer Beeinträchtigung leiden. Das Leben von deren Eltern gleicht einer einzigen Herkulesaufgabe. Diese Kinder haben nicht selten sehr spezifische Bedürfnisse und brauchen viel Aufmerksamkeit, was die Eltern jeden Tag an ihre Grenzen bringt. Dadurch fühlen sie sich häufig überfordert, unverstanden und allein – gerade, wenn ihnen die nötige Unterstützung fehlt.
So ähnlich erging es auch Daniela Wyttenbach. Die 34-Jährige aus dem Oberland ist zweifache Mutter, ihr älterer Sohn ist hochsensibel. «Eine hochsensible Person kann all die Informationen, die wir jeden Tag aufnehmen, nicht filtern.» Bei einer Person ohne diese Störung würden diese Informationen dagegen nach Wichtigkeit gefiltert und all die unwichtigen Sachen abgeblockt werden. «Meinem Sohn fehlt dieser Filter, das heisst für ihn ist alles, was er hört, sieht oder auch schmeckt, gleich wichtig.» Dadurch ergäben sich eine Reihe von Problemen.
«Zum einen ist sein Gehirn durch die Flut an Informationen irgendwann überreizt und bricht zusammen», so Wyttenbach. Das geschähe nur selten am Tag, sondern meistens am Abend und am Wochenende, wenn er zuhause zur Ruhe kommen könne. «Dann weint er und hat auch sehr häufig Wutanfälle.» Die erste Reaktion der meisten Elter sei in diesem Fall, das Kind einfach täubelen zu lassen, bis es sich beruhigt habe. Das sei bei einem hochsensiblen Kind aber der falsche Weg. «In diesem Zustand kann mein Sohn sich nicht beruhigen, weil sein Gehirn so überfordert ist, dass er es nicht mehr schafft, seine Emotionen zu regulieren.» Stattdessen müsse sie ihn in den Arm nehmen, um ihm wieder ein Gefühl von Sicherheit zu geben.
Sicherheit und Struktur sei bei der Familie Wyttenbach ein grosses Thema. «Mein Sohn kommt nur sehr schwer mit Veränderungen klar.» Spontan seien diese sowieso nicht möglich. «Darum habe ich angefangen, ihm Wochenpläne zu machen, damit er weiss, was auf ihn zukommt.» Sie könne aber natürlich nicht alles planen, manchmal passiere etwas Unvorhergesehenes. «Damit muss er aber lernen umzugehen. Die Situation hat sich aber bereits stark verbessert.»
Erste Symptome im Alter von vier
Das erste Mal habe sie Symptome bemerkt, als ihr Sohn vier oder fünf Jahre alt war. «Davor war sogar eher ein sehr ruhiges und pflegeleichtes Baby», so Wyttenbach. Zwar hätte er schon damals nach anstrengenden Tagen in der Nacht geweint, das hätte sie aber nicht ungewöhnlich gefunden. «Dann haben aber die Wutanfälle angefangen. Und ich konnte mir einfach nicht erklären, wie es plötzlich zu diesem Wandel gekommen war.»
Als sie aber für einige Zeit ins Spital musste, hätten sich Betreuerinnen des Roten Kreuz um ihre Söhne gekümmert. «Eine davon hat mir dann gesagt, dass sie glaubt, mein Sohn sei hochsensibel», so Wyttenbach. Das sei das erste Mal gewesen, dass sie diesen Begriff gehört hatte. «Ich habe mich gleich mehrere Bücher zu diesem Thema besorgt und beim Durchlesen habe ich in den Zeilen fast eins zu eins meinen Sohn erkannt.» Sie sei zunächst vor allem erleichtert gewesen: Endlich hätte sie eine Diagnose für das Leiden ihres Sohnes. «Besonders da es in den Büchern bereits einige Praxistipps gab, die ich dann versucht habe umzusetzen.»

Etwa sei ihr Sohn ein sehr heikler Esser. Das solle damit zusammenhängen, dass sein Gehirn eine schlechte Erfahrung beim Essen mit dem Geschmack verbindet. «Wenn er beispielsweise komisch angeschaut wird, wenn er ein Guetzli isst, stellt sein Hirn zukünftig eine Verbindung zwischen diesem negativen Gefühl und dem Geschmack des Guetzlis her.» Er selbst könne diesen Vorgang aber nicht nachvollziehen. «Er sagt dann einfach, dass er das nicht gern hat.» Auch hier sei der erste Impuls, ihn zum Probieren zu zwingen falsch. «Natürlich versuche ich ihn dazu zu überreden, Zwang bedeutet für ihn aber unnötigen Stress.» Darum lasse sie ihn meist essen, was er möchte, solange auch genug Gesundes dabei sei.
Regelmässige Ruhepausen
Weiterhin sei es wichtig, dass ihr Sohn auch am Tag regelmässig Ruhepausen mache, da mit sein Gehirn Eindrücke verarbeiten könne, bevor es zu einer Überreizung komme. «Er muss etwa nach dem Mittagessen oder vor dem Abendessen für rund eine halbe Stunde in sein Zimmer und am besten liegt er dann einfach aufs Bett und schläft.» Das klappe aber nicht immer.
Zudem versuche sie aber mit ihm über seine speziellen Bedürfnisse zu sprechen. «Wenn er etwa anfängt sich aufzuregen, versuche ich mit ihm herauszufinden, was die Ursache ist», so Wyttenbach. Das würde zwar nicht immer gelingen, aber wenn es gelingt, müsste er zwar weinen, könne sich aber anschliessend wieder beruhigen. «Und falls es nicht klappt, versuche ich im Nachhinein mit ihm zu evaluieren, was passiert ist.» Das funktioniere recht gut. «Er ist ein sehr kluges Kind. Er erkennt meist selbst was das Problem war.» Beim nächsten Mal aber den gleichen Auslöser zu meiden, funktioniere noch nicht. «Ich hoffe aber, dass er das mit den Jahren lernen wird.»
Genau, gerecht, vernünftig und zuverlässig
Und auch sonst bringt die Hochsensibilität einige Vorteile. «Den betroffenen Personen ist Genauigkeit und Gerechtigkeit sehr wichtig», so Wyttenbach. Ihr Sohn könne etwa bei den Hausaufgaben nicht «schlampen». «Bei ihm muss alles immer richtig und perfekt sein.» Zudem sei er sehr vernünftig und zuverlässig. «Wenn ich ihn etwa schnell Milch einkaufen lasse, würde er nicht mal auf die Idee kommen, noch irgendsonstetwas zu kaufen.»
Dennoch komme sie regelmässig an ihre Grenzen und fühle sich fast immer schuldig. «Mein Sohn spürt sofort, wenn ich nervös oder unsicher bin, etwa, wenn ich gestresst bin.» Dann fange er gleich an, sich Sorgen zu machen. «Darum wäre es wichtig, dass ich in jeder Situation immer ruhig bleibe. Da ist aber schlicht nicht immer möglich.» Wenn es dann wieder eine schwierigere Phase gäbe, käme sie sich wie eine schlechte Mutter vor. «Ich bin aber auch nur ein Mensch.»

Darum habe sie schon seit Jahren den Wunsch gehabt, sich mit anderen Eltern hochsensibler Kinder auszutauschen. «Damit ich mich für meine Überforderung nicht zu schämen brauch, sondern mich verstanden und akzeptiert fühle und wir vielleicht sogar Praxis-Tipps austauschen können», so Wyttenbach.
Darum hätte sie nach einer Selbsthilfegruppe im Oberland gesucht. «Zwar gab es drei für hochsensible Erwachsene, allerdings nicht eine für die Eltern von hochsensiblen Kindern.» Also entschloss sich Wyttenbach, eine zu gründen. «Mit der Unterstützung von Frau Kaderli, Co-Fachleitung des Beratungszentrum Thun der Selbsthilfe BE, möchte ich die Selbsthilfegruppe «Eltern sein von einem hochsensiblen Kind» gründen. Ein erstes Treffen wird voraussichtlich im Januar stattfinden.»

Das macht die Selbsthilfe BE Selbsthilfe BE ist ein gemeinnütziger Verein, der sich im Auftrag des Kantons Bern für die gemeinschaftliche Selbsthilfe engagiert. Im Januar 2004 wurde dieser aus der ehemaligen Hilfsstelle gegründet mit dem Ziel, Menschen in ähnlichen Lebenssituationen und mit denselben Anliegen zusammenzuführen, um ihnen über die gemeinschaftliche Selbsthilfe mehr Lebensqualität zu ermöglichen. Im Kanton Bern gibt es über 250 aktive Selbsthilfegruppen, zu Themen wie «Krebs», «sexueller Orientierung» oder auch «Tod, Trauer und Verlust» – rund 50 davon im Berner Oberland. Knapp ein Dutzend neue Gruppen befinden sich im Aufbau unter anderem etwa die Gruppe «Neurodermitis», «Brustkrebs beim Mann» und «Verdingkinder.»