Jedes Jahr wird ein neues Höhlentier des Jahres gekürt. Dieses Jahr ist es der Höhlen-Raubkäfer. Eben jenen Käfer versucht der Interlakner Höhlenforscher Christian Lüthi nun zu finden und begibt sich dafür mit Pinzette, Probenfläschchen und Stirnlampe bewaffnet in einen alten Wasserstollen.

Auf der gesamten Welt gibt es Millionen verschiedener Tierarten. Wie viele genau, ist schwierig zu sagen, da vermutlich erst ein Bruchteil aller Arten bestimmt werden konnte. Während einige Klassen der Wirbeltiere, wie Säugetiere und Vögel, bereits relativ gut erforscht sind, gibt es besonders unter den wirbellosen Tieren, wie etwa bei den Insekten und Spinnentieren, noch sehr viele Fragezeichen.

Das mag zum einen an der schieren Masse an Arten in diesen Klassen liegen. Mit über einer Million bisher bestimmter Arten belegen die Insekten hier klar den Spitzenplatz, weit abgeschlagen, aber noch immer mit deutlichem Vorsprung auf die anderen Klassen folgen auf Platz zwei mit gut 100’000 Arten die Spinnentiere. Im Vergleich dazu gibt es nur rund 5500 Säugetierarten.

Höhlentier des Jahres
Zum anderen liegt es vermutlich daran, dass man sie aufgrund ihrer Grösse leicht übersieht. Zumal sich die kleinen Krabbler meist verstecken, sei es hinter dem Bücherregal, unter einem Stein, in einem Erdloch oder gerne auch Mal in einer Höhle. Seit 2009 bestimmt der deutsche Verband der Höhlen- und Karstforscher jeweils ein «Höhlentier des Jahres», seit drei Jahren beteiligt sich die Schweizerische Gesellschaft für Höhlenforschung SGH an dieser Kampagne, um die Bevölkerung und die Behörden für das Thema Biodiversität in unterirdischen Lebensräumen zu sensibilisieren. 2019 war es die Gemeine Höhlenstelzmücke, 2020 die Mauerassel, und dieses Jahr ist der Höhlen-Raubkäfer das Höhlentier des Jahres.



«Als Höhlentier des Jahres wird jeweils ein eher typisches Höhlentier auserkoren, über das wir auch etwas erzählen können, damit sich die interessierten Leute auch damit befassen können», sagt der Interlakener Höhlenforscher Christian Lüthi. Wie so viele andere Höhlentiere lebe der Höhlen-Raubkäfer nicht ganzjährig in Höhlen, sondern komme von aussen hinein, um sich hier – gemäss seinem Namen – räuberisch von anderen Höhlenbewohnern zu ernähren. «Darum, und auch weil es bei der Höhlenforschung schlicht nie eine Garantie dafür gibt, etwas zu finden, weiss ich nicht, ob wir ihn heute finden.»
Christian Lühti macht sich auf die Suche nach dem Höhlen-Raubkäfer.
Steiler Weg zum alten Wasserstollen
Dennoch will er es versuchen und begibt sich dazu in den «alten Wasserstollen» nahe Goldswil. «Wir haben dem Stollen diesen Namen gegeben, weil man hier vermutlich versucht hat, Wasser zu gewinnen.» Nach einer knapp zehnminütigen Fahrt mit dem Auto in den Wald hinein, weiteren zehn Minuten Spaziergang auf einem der Wanderwege und einem deutlich längeren Fussmarsch den steilen Hang hinauf stehen wir vor dem Eingang des rund 30 Meter tiefen Stollens. Beziehungsweise knapp zwei Meter darunter, da der Eingang etwas erhöht in einem Felsband liegt, über das stetig ein grösseres Rinnsal Wasser fliesst, welches dann im laubbedeckten Waldboden verschwindet.


Nach einer kurzen und etwas rutschigen Kletterpartie stehen wir vor dem Stollen. Seinen Rucksack lässt Lüthi ausnahmsweise am Eingang stehen. Bei jeder anderen Expedition in eine grössere Höhle wäre er dabei. «Darin habe ich alles, was ich zum Überleben in einer Höhle brauche, wie etwa Essen, Trinken und ein Ersatzlicht.» Besonders letzteres hat oberste Priorität. «Auch wenn man eine Höhle kennt, wenn man nichts mehr sieht, wäre es viel zu gefährlich, den Rückweg zu suchen, stattdessen sollte man sich einfach hinsetzen und auf Hilfe warten.»

Darum sei es wichtig, immer jemanden über seine Expeditionspläne zu informieren. «Auch heute habe ich einen Freund informiert, dass ich um 12.00 Uhr zurück sein werde.» Würde er sich bis dahin nicht bei ihm melden, schickt dieser Punkt 12.00 Uhr die Rettungskräfte los. «Manchmal begegnen sie einem dann auf dem Rückweg aus der Höhle, und dann ist es schade um den Aufwand, aber im Ernstfall kann jede Minute zählen.» Dann macht er sich mit Helm und eingeschalteter Stirnlampe auf den Weg in die Dunkelheit.

Genau hinschauen
Wir sind noch keine zwei Meter weit in den Stollen hinein, da sind wir bereits von den ersten Höhlenbewohnern umgeben. Dutzende kleine Mücken schwirren um unsere Köpfe. Offensichtlich fühlen sie sich im Eingangsbereich des Stollens wohl, denn nur ein paar Meter weiter ist der Spuk schon wieder vorbei. Trotz unseren Lampen und den bis hierher reichenden Sonnenstrahlen sind auf den ersten Blick keine weiteren Tiere in Sicht. Im schummriger werdenden Licht braucht es einen zweiten Blick und vor allem auch ein gutes Auge.

Auf unserem Weg durch die immer düsterer und feuchter werdende Höhle finden wir nun allerlei Tiere: Schmetterlinge, Schnecken, Spinnen, Asseln, Würmer, Tausendfüssler und erneut ein paar Mücken. Aber keine Käfer. Geschweige denn einen Höhlen-Raubkäfer. Einige Tiere fängt Lüthi mit seiner Pinzette und packt sie in ein Probenfläschchen.


«Wir sind zwar Laien, aber wir wollen eine möglichst saubere, vergleichbare Forschung machen», erklärt Lüthi. Darum würden die Forschenden ihre Funde oft sammeln und anschliessend zum Experten für die Klassifizierung schicken, wenn sie diese selber nicht zweifelsfrei bestimmen können. «Da Höhlentiere noch so wenig erforscht sind, ist es wichtig, dass wir Proben haben, denn unsere Nachweise muss man überprüfen können.»

Unter unseren Schuhen fliesst ein kleines Bächlein durch das Bodengeröll und in nicht allzu weiter Entfernung plätschert deutlich mehr Wasser die Wände der Höhle hinunter. Seinen Kopf muss der knapp zwei Meter grosse Lüthi mittlerweile einziehen, um ihn nicht an der Höhlendecke zu stossen. Wir sind im Übergangsbereich, der im Gegensatz zum Eingangsbereich nicht vom Wetter beeinflusst wird, sondern das ganze Jahr über konstant seine Temperatur hält. Bis hierher reicht nun auch kein Sonnenstrahl mehr. Im Schein unserer Lampen erspähen wir immer mehr Insekten und Spinnentiere und dann sogar eines der wenigen Höhlen-Säugetiere.



Schlaf, Kleine Hufeisennase, schlaf
An der Wand an ihren kleinen Füsschen hängend und die Flügel um ihren kleinen Körper gewickelt hängt die kleine Fledermaus. «Sehr wahrscheinlich eine Kleine Hufeisennase», sagt Lüthi. Er flüstert, denn er will die Fledermaus nicht in ihrem Schlaf stören. «Wenn Fledermäuse schlafen, fahren sie ihre Körperfunktionen auf ein Minimum herunter und das Aufwachen kostet sie ein bedeutendes Mass an Energie.» Besonders im Winter sei es wichtig, sie nicht aufzuwecken.

«Im Herbst fressen sie sich genug Fett an, um aus ihrem Winterschlaf etwa fünf bis sieben Mal zu erwachen und sich zu entleeren», so Lüthi. Aufgrund der tiefen Temperaturen fänden sie in dieser Zeit aber keine Insekten zum Fressen. «Wenn eine Fledermaus nun aber statt fünf plötzlich 15 Mal aufwacht, weil sie jemand immer wieder stört, kann es sein, dass sie nicht mehr genug Energie hat und verhungert.» Darum würden sie im Winter besonders Rücksicht auf die Tiere nehmen. «Wir mussten auch schon eine lang geplante Tour abbrechen, weil in der Höhle überraschenderweise plötzlich viele schlafende Fledermäuse hingen.»

Sinter, so weit das Auge reicht
Also lassen wir die Fledermaus ruhen und gehen noch tiefer hinein in den Stollen. Kurz darauf gelangen wir zur Quelle des Wassers unter unseren Füssen. Der Stollen erweitert sich zu einem kleinen Raum mit einigen Metern Höhe. Aus einem Loch in der Decke plätschert unaufhörlich Wasser auf den Boden hinab. Nach dieser mit mineralischen Ablagerungen, sogenanntem Sinter, weiss verzierten Aufweitung führt der nun trockene Stollen für einige Meter weiter und wird dann immer niedriger, bis er abrupt zu enden scheint und nur noch ein enger Spalt am Boden sichtbar bleibt. Niedrig, aber breit genug, um hindurch zu kriechen.

Christian Lüthi kriecht ohne zu zögern durch den Spalt und verschwindet auf der anderen Seite. Mit leicht mulmigem Gefühl setze ich mich in Bewegung und folge ihm durch den knapp zwei Meter langen Bereich, auf dem weiss nicht wie viele Tonnen Gestein lasten. Sicher auf der anderen Seite in einem weiteren, grösseren Raum mit rund fünf Meter Durchmesser und ebensolcher Höhe angekommen, werden wir belohnt. Zwar nicht mit dem Höhlen-Raubkäfer, aber an der Wand hängt eine weitere Hufeisennase. Da wir auch sie nicht stören wollen, kriechen wir kurz darauf wieder zurück in den Stollen.


Kein Höhlen-Raubkäfer
Auf unserem Rückweg halten wir weiter nach dem Höhlen-Raubkäfer Ausschau, doch kein Glück. Der kleine Krabbler will sich nicht zeigen. Oder ist gar nicht hier. «Die aktuelle Situation im Stollen ist für den Höhlen-Raubkäfer nicht ideal, beispielsweise würde er mehr Laub am Boden bevorzugen», so Lüthi. Zudem sei es möglich, dass sie hier bereits früher besagten Käfer gefunden hätten, es nur noch nicht wissen. «Ein Tier durch einen Experten identifizieren zu lassen dauert teilweise sehr lange, da wir zu wenige Spezialisten dafür haben.»


Während Lüthi von den Schwierigkeiten der Klassifizierung erzählt, nähern wir uns erneut der ersten Fledermaus. Sie zittert. «Das bedeutet, dass sie uns bemerkt hat und in der Aufwachphase ist», erklärt Lüthi. Schnell gehen wir weiter und hoffen, dass wir die Fledermaus noch nicht ganz aufgeweckt haben. Wenn die Störzeit nur sehr kurz sei, komme es vor, dass Fledermäuse einfach wieder einschliefen. «Aber das werden wir merken, wenn sie später an uns vorbeifliegt. Oder eben nicht.»

Als wir die ersten Sonnenstrahlen erreichen, stellen wir unsere Lampen ab. Am Eingang angekommen, packen wir unsere Sachen und warten noch einige Minuten. Glück gehabt. Keine Fledermaus in Sicht. Aber leider auch kein Höhlen-Raubkäfer.