Schon bevor im Juni 2018 bekannt wurde, dass von der bei der Explosionskatastrophe 1947 verschütteten Munition noch immer Gefahr droht und die Dorfbevölkerung ihr Zuhause vermutlich verlassen wird müssen, recherchierte Filmemacher Theo Stich zum über 70 Jahre zurückliegenden Unglück. Durch diese Hiobs-Botschaft wurde aus seinem Dokumentarfilm über ein vermeintlich abgeschlossenes Drama ein aktueller Bericht über das Fiasko zwischen dem Versagen früherer Behörden und dem Leid der Betroffenen.

Von fast überall in Mitholz aus sieht man die Felswand, hinter der das Schweizer Militär während des Zweiten Weltkriegs, von 1941 bis 1944, ihr damals grösstes Munitionsdepot baute und wo sechs Jahre nach Baubeginn, im Dezember 1947, gut die Hälfte der insgesamt 7000 Tonnen eingelagerter Munition explodierte. Neun Personen starben. Mitholz wurde zerstört und später wieder aufgebaut. Auch das Äussere der Felswand hat sich durch das Unglück verändert. Rund 250’000 Kubikmeter Gestein wurden durch die Explosionen weggesprengt.
Regisseur Theo Stich erzählt, wie er auf die Idee zu seinem neuesten Film kam und was er damit bezwecken möchte.
Diese spezielle Felsformation ist auch dem in Luzern lebenden Historiker und Filmemacher Theo Stich aufgefallen, dessen Dokumentarfilm Mitholz über die Explosionskatastrophe und deren Nachwirkungen bis in die heutige Zeit noch diese Woche Premiere am Film Openair Spiez feiert. Gemeinsam mit seiner Partnerin Kathrin Künzi besuchte Stich seit 2014 mehrmals das Haus ihrer Familie, von dessen Balkon man direkte Sicht auf die Mitholzer Fluh hat. «Man schaut unweigerlich auf diese Felswand.» Die spezielle Form und Farbe im Vergleich zu den umliegenden Felsen seien ihm gleich aufgefallen. «Als ich dann meine Partnerin darauf angesprochen habe, hat sie mir von der Explosionskatastrophe von 1947 erzählt.»

Mitholz-Tragödie kein Platz in Schweizer Geschichts-Studium
Für Stich war es das erste Mal, dass er von der Tragödie hörte. Was ihn überraschte. «Ich habe Geschichte mit Schwerpunkt Schweizer Geschichte studiert, aber die Geschichte von Mitholz war mir bis dahin nicht bekannt.» Als Historiker war sein Interesse geweckt. «Es haben sich mir Fragen gestellt, wie: ‚Was ist genau passiert?‘, ‚Warum ist das passiert?‘, und: ‚Wurde das aufgearbeitet?’» 2017 entschloss er sich, diesen Fragen nachzugehen.

Foto: Frenetic Films
Diese Fragen beschäftigten die letzten 70 Jahre wohl auch die Behörden, denn im Schweizerischen Bundesarchiv in Bern gibt es zu dem Unglück einen umfangreichen Aktenbestand. Doch als Stich diese einsehen wollte, stellte er fest, dass auf gewissen Dokumente, die auf wenige Jahre nach dem Unglück datiert sind, eine 80-jährige Sperrfrist lag. «Ich habe das zuständige Amt, das Eidgenössische Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS), um Einsicht in diese Akten ersuchte, doch mein Gesuch wurde abgelehnt.»

Auch ein Besuch in der noch immer bestehenden Militäranlage in Mitholz wurde Stich verweigert. «Als Grund nannte man mir, dass der Bund dort ein Rechenzentrum plant, das der höchsten Geheimhaltungsstufe untersteht.» Eine für ihn verständliche Absage, dennoch versetzte sie dem von ihm geplanten Dokumentarfilm vorerst einen Todesstoss. «2017 konnte ich die Geschichte von Mitholz nicht so recherchieren, wie ich gewollte hätte.»

Foto: Frenetic Films
Stochern im Pulverfass
Damals wusste Stich noch nicht, in was für einem Pulverfass er mit seinen Rechercheanfragen gestochert hat. Heute geht er davon aus, dass sich das VBS schon während seiner ersten Recherche mehr und mehr bewusst wurde, dass sich hinter der Mitholzer Fluh noch Tausende Tonnen Munition befinden, und man an einem Plan zu Beseitigung dieser Altlast arbeitete. 2018 entschied sich das VBS dann, an die Öffentlichkeit zu gehen, und lud die Anwohnenden von Mitholz sowie Bundeshaus- und lokale Journalisten zu einer ersten Informationsveranstaltung, bei der die Anwesenden nicht nur über die rund 3000 Tonnen verbliebener Munition in Kenntnis gesetzt wurden, sondern auch darüber, dass zur Räumung dieser die Mitholzerinnen und Mitholzer ihr Zuhause womöglich für immer verlassen müssen.

Stich war nicht an besagte Informationsveranstaltung eingeladen, erfuhr aber noch am selben Abend von einer Bekannten von der dort verkündeten Schock-Nachricht. «Das hat dem Projekt eine ganz neue Dimension gegeben.» Aus der Aufarbeitung einer vermeintlich abgeschlossenen Tragödie wurde ein Dokumentarfilm über das Versagen der früheren Behörden und darüber, wie die Bewohnerinnen und Bewohner von Mitholz mit einer auf diesem Versagen begründenden Hiobs-Botschaft umgehen.

Auf Schock folgte Verunsicherung
Die Hauptdreharbeiten fanden zwischen Herbst 2019 bis Juni 2020 statt. In dieser Zeit sprach Stich mit mehreren Betroffenen und begleitete sie während des Prozesses, der nach der Informationsveranstaltung folgte. «Nach dem ersten Schock waren sie verunsichert, da nicht einmal die Behörden ihnen genau sagen konnten, was genau nun passieren wird.» Erst im Februar 2020 stand fest, dass die Bevölkerung Mitholz zumindest vorübergehend verlassen wird müssen. «Mit ‚Mitholz‘ habe ich versucht, ihre Geschichte zu erzählen und einem grösseren Publikum nachvollziehbar zu machen, was es für Menschen bedeutet, wenn sie ihre Heimat verlassen müssen.»

Foto: Frenetic Films
Diesen Freitag feiert «Mitholz» am Film Openair in Spiez Premiere. Autor, Regisseur und Produzent Stich wird gemeinsam mit seinen Protagonisten anreisen. Doch die werden nicht die einzigen Mitholzerinnen und Mitholzer im Publikum sein. «Ich konnte organisieren, dass 100 Tickets für die Anwohnenden zurückgelegt und von der Gemeinde Kandergrund bezahlt werden.» Stich ist aber nicht nur auf deren Reaktion gespannt. Sein Ziel als Filmemacher sei es, Verständnis und Empathie für die Geschichte der Betroffenen bei einem grösseren Publikum zu erreichen. «Zufrieden mit meinem Werk bin ich dann, wenn ich sehe, dass das mit dem Film gelingt.»
Der Dokumentarfilm von Theo Stich erzählt die Geschichte des Oberländer Dorfes.
Weltpremiere: 23. Juli, Film Openair Spiez Kinostart: 26. August, gesamte Deutschschweiz