Der Exiltibeter Loten Namling kämpft seit Jahrzehnten für das Ende der Unterdrückung seines Volks durch China. Anfang Juli startete er eine Welttournee in Bern und machte am Sonntagabend auch im Lütschinental halt.

Von der Sonnenterrasse der Jugendherberge Grindelwald kann man an einem guten Tag direkt auf die Eiger-Nordwand blicken. Am Sonntagabend verdeckten Wolken die meiste Zeit den Gipfel, doch einige wenige Male stach er aus ihnen hervor wie ein Eisberg aus einem bauschigen Wattemeer. Trotz der leicht verdeckten Sicht auf eines der Oberländer Wahrzeichen erinnert das spektakuläre Panorama den Musiker Loten Namling an seine Heimat.

Fast auf den Tag genau vor 59 Jahren wurde der Exiltibeter in Indien geboren, nachdem seine Eltern aus Tibet geflohen waren, um der Unterdrückung durch China zu entgehen. Mittlerweile lebt Loten Namling bereits seit über 30 Jahren in der Schweiz. «Nach dieser langen Zeit bin ich hier daheim, aber immer, wenn ich in die Berge komme, fühle ich mich wirklich zu Hause.» Dennoch zieht es ihn immer wieder in die Ferne.
Jazz, Rock und Heavy Metal
Seit 40 Jahren reist Loten Namling umher und spielt überall auf der Welt seine Musik, immer mit dem Ziel, auf die prekäre Situation in Tibet aufmerksam zu machen. Viele der Lieder, die er spielt, stammen aus der Feder des sechsten Dalai-Lamas, der seine Stücke Anfang des 18. Jahrhunderts komponierte. Doch nicht nur traditionellen Gesänge und Lautenklänge gehören zu Namlings Repertoire, von Jazz, über Rock bis zu Heavy Metal auf weitaus moderneren Instrumenten ist alles mit dabei. Sogar rappen kann der 58-Jährige, allerdings immer auf tibetisch.

Das Einzige, das es für eine erfolgreiche Integration braucht, ist Pünktlichkeit
Loten Namling, Musiker und Exiltibeter
Das Wichtigste im Leben sei die eigene Kultur, so Loten Namling. Das heisst für ihn aber nicht, dass man sich anderen Kulturen gegenüber verschliessen soll. «Jeder, der seine eigene Kultur kennt und schätzt, hat so viel zu geben.» Genau das sei das Schöne an der Schweiz. «Sie hat ihre eigene Kultur und zusätzlich Dutzende andere von den vielen Menschen, die hierhergekommen sind.» Von vollständiger Homogenisierung und dem Tragen der Schweizer Flagge nach abgeschlossenem Integrationsprogramm hält er nicht viel. «Das einzige, das es für eine erfolgreiche Integration braucht, ist Pünktlichkeit.»
Verschmelzung Ost-West
Nach 30 Jahren in der Schweiz hat sich Loten Namling aber doch etwas mehr als nur die Schweizer Pünktlichkeit angeeignet. Beispielsweise liebt er das Schweizer Essen. «Ich mag die Mischung aus dem Tibetischen und dem Westlichen.» Schon auf den ersten Blick sieht man ihm an, dass hier die Kulturen aufeinandertreffen: Zum Interview trägt er nebst eher westlich üblichen Hosen, Schuhen und Jackett eine selbst-designte, östlich angehauchte Weste sowie eine buddhistische Mala-Gebetskette und ein Schutz-Amulette, ein Erbstück väterlicherseits. «Mein Kleidungsstil, mein Essen, meine Musik: Mein ganzes Leben ist Fusion.»

Für sein Konzert, das er am Sonntagabend hier auf der Sonnenterrasse der Jugendherberge Grindelwald gibt, zieht sich Loten Namling aber um. Er schlüpft in ein traditionell tibetisches Gewand, bestehend aus einem gelben Kimono, einem gelben Hut. Über seiner Kluft trägt er einen ärmellosen, bis zu den Füssen reichenden Umhang, den ihm die mittlerweile verstorbene Schweizer Designerin Christa de Carouge geschenkt hat. Als Hommage an die vielen blinden Musiker Tibets trägt er für Konzerte zudem immer eine Sonnenbrille.

Laute aus Tibet
Dann stimmt Loten Namling ein Lied vom sechsten Dalai-Lama an, das übersetzt in etwa heisst: «Oh weisser Kranich, leih mir deine Flügel, ich fliege nicht weit, von Litang kehre ich zurück». Er spielt auf seiner Dran-nye, einer tibetischen Laute. Sie war ein Geschenk, er hat sie erst vor wenigen Wochen von einem Freund aus Tibet erhalten. Wer dieser Freund ist und in welcher Beziehung er zu ihm steht, will der Exiltibeter nicht sagen. Zu gross sei die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Freund durch das Geschenk an einen offenkundigen Unterstützer der «Free Tibet»-Bewegung selbst in Gefahr gerät. Umso wertvoller ist das Geschenk für Namling: «Ich bete mit diesem Instrument, dass ich weiterkomme und die Nachricht der Tibeter überall auf dieser Welt verbreiten kann.»

Darum macht sich Loten Namling nun erneut auf, die Welt zu umreisen und sie mit dem Motto «I sing a song from Tibet for You» zu bespielen. Am 6. Juli, am Geburtstag des aktuellen Dalai-Lamas, begann er seine Tournee in Bern. Wohin er als Nächstes geht, ist noch unklar. Heute ist er noch hier in Grindelwald, morgen vielleicht auch. Von allzu viel Planung hält er offensichtlich nichts. Aber irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft wird er mit Sicherheit das Oberland verlassen und wie ein weisser Kranich weiterziehen.
China und Tibet fehlen
«Mein Ziel ist es, irgendwann in jedem Land dieser Welt gespielt zu haben», so Loten Namling. Das Ziel hat er schon fast erreicht, dennoch fehlen zumindest zwei Länder, die er nicht allzu bald wird besuchen können: China und Tibet. Eine Einreise wäre zu gefährlich. «Als ich noch ganz klein war, haben meine Eltern gebetet, dass sie in Tibet sterben dürfen.» Dieser Wunsch sei ihnen leider nicht erfüllt worden.

Auch Loten Namling hofft, in Tibet von den Lebenden scheiden zu dürfen, auch wenn die Wahrscheinlichkeit aktuell nicht sehr hoch ist. «Die Situation in Tibet ist sehr schlimm, noch schlimmer als vorher.» Aufgeben kommt für ihn allerdings nicht infrage. «In dem Moment, in dem ich aufgebe, in dem bin ich verloren.»