Fleischfressende Pflanzen, anhängliche Schmetterlinge, ein bodenständig-charmantes Hüttenwart-Paar und eine atemberaubende Aussicht vom Kandertal bis zum Oeschinensee: Das alles findet man auf der 750 Höhenmeter über Kandersteg gelegenen SAC-Hütte. Und mit etwas Durchhaltevermögen packt jeder den Aufstieg.

Die Doldenhornhütte liegt auf einem Geländekopf auf 1915 Höhenmeter, direkt unter dem namensgebenden Doldenhorn und den äusseren Fisistöcken. Um zu der Hütte zu gelangen, muss man aber zunächst die knapp vier Kilometer und 750 Höhenmeter von Kandersteg aus überwinden. Entgegen Roms Beispiel führen zur fast an der Via Alpina liegenden Doldenhornhütte bloss zwei Wege, und da Variante eins entlang des Oeschibachs zum Zeitpunkt meiner Wanderung wegen eines Felssturzes beim Bärentritt gesperrt war, fiel mir die Wahl leicht. Mittlerweile ist aber auch diese Strecke wieder offen.

Karte: zvg
Gut zweieinhalb Stunden sollte Variante zwei mit Startpunkt beim Waldhotel Doldenhorn gehen, doch gleich das erste Stück in den Wald hinein geht steil bergauf. Während dieser ersten Stunde – halb kletternd über Stock und Stein – habe ich das Gefühl, keine 100 Meter vorwärtszukommen. Innerhalb weniger Minuten komme ich trotz der Schatten spendenden Bäume ins Schwitzen.


Auch als es dann endlich wieder mehrheitlich geradeaus geht, muss ich regelmässig anhalten. Nicht wie vorher aus Anstrengung, sondern weil es hier so viel zu sehen gibt, was ich sonst als Stadt-Mensch nur selten zu Gesicht bekomme. Etwa ein in einen Baumstamm geritztes Gesicht, das mich motivierend anlächelt. Oder die Aussicht über das Kandertal, die mit jedem erklommenen Höhenmeter schöner wird.


So angenehm diese Verschnaufpause war, so bald darauf beginnt gleich wieder die nächste Kletterpartie. Doch da ich bereits zwei Drittel der Strecke geschafft habe, ist mein Ehrgeiz geweckt. Auch die langsam gegen das Tageshoch von 28 Grad steigenden Temperaturen und die Sonne, die mir wegen der kargeren Landschaft auf den Rücken fällt, können mich nicht vom Marschschritt abhalten. Dennoch bietet die Durchquerung des am Weg entlang verlaufenden Bachs eine willkommene Abkühlung. Dann endlich kommt die Doldenhornhütte am Ende des Geländekopfes in Sicht.


Oben angekommen sind die Strapazen schnell vergessen. Dafür sorgt der einmalige Ausblick hoch zum Doldenhorn und den Fisistöcken sowie auf der anderen Seite übers Kandertal, bis hin zum Oeschinensee.


Den ganzen Sommer über kann diese Aussicht das Hüttenwart-Paar Heidi und Fritz Wenger geniessen. Die gelernte Coiffeuse und der ehemalige Projektleiter einer Industriefirma sitzen mir an einem der Tische im Aussenbereich gegenüber und erzählen, wie sie vor drei Jahren den Betrieb der Doldenhornhütte übernommen und sich damit einen Traum erfüllt haben. «Für uns war immer klar, dass, wenn sich irgendwann die Möglichkeit ergibt, unser Leben um 180 Grad drehen zu können, wir diese Chance ergreifen», erzählt Fritz Wenger. Völlig unvorbereitet haben sie diese neue Lebensaufgabe allerdings nicht übernommen.

Bevor die Wengers zur Doldenhornhütte kamen, war Heidi Wenger bereits drei Mal Hüttengehilfin. Zweimal in der Rotstockhütte, einmal in der Weissmieshütte. Auch sonst seien die beiden viel in den Bergen unterwegs gewesen, so Fritz Wenger. «Irgendwann entstand dann die Idee, selbst eine Hütte zu übernehmen, also haben wir uns umgeschaut, welche denn zu uns passen würde.» Dafür gingen sie bis ans andere Ende der Schweiz, etwa ins Appenzeller Alpstein-Gebirge.
Das Hüttenwart-Paar Heidi und Fritz Wenger erzählt, was «ihre» Doldenhornhütte so speziell macht.
Als dann ihre jetzige Hüttenwartstelle ausgeschrieben wurde, fanden die Wengers seit langem einmal wieder den Weg in die Doldenhornhütte. «Schon beim Hochlaufen hatte ich ein Kribbeln im Bauch», erzählt Heidi Wenger. Was vielleicht nur die frische Höhenluft war, sorgte bei den beiden auf jeden Fall für eine «rosaroten Brille». Oben angekommen waren sie sich einig: «Das muss diese Hütte sein und keine andere.» Sie bewarben sich für die Pacht und der Rest ist Geschichte.


Die Doldenhornhütte ist laut Fritz Wenger «eine Hütte für alle». Das liege vor allem an der guten Erreichbarkeit. Im Vergleich zu vielen anderen SAC-Hütten dauere der Aufstieg nicht sehr lang, weshalb man auch als Tagesgast vorbeikommen könne. «Von Familien mit Kindern bis zum ambitionierten Bergsteiger, der auf das Doldenhorn geht, kann jeder zu uns kommen.» Das Aussergewöhnliche an der Hütte sei für ihn aber die Aussicht. «Wir sind die Hütte, die fast alles bieten kann: Blick über die Berge, ins Tal und zum Oeschinensee.»

Nicht nur in der Ferne, auch im Nahen gibt es einiges zu sehen, denn die Doldenhornhütte gehört zum Unesco-Welterbe Jungfrau-Aletsch. «Wir haben hier oben eine extrem grosse Artenvielfalt», so Fritz Wenger. Da das umliegende Gelände keine Alp sei, wäre hier alles naturbelassen. «Jede Pflänzchen, das will, kann hier wachsen.» Es gäbe hier sogar einige seltene Pflanzen, wie etwa das «Frauenschüeli» und eine der nur drei in der Schweiz heimischen fleischfressenden Pflanzen. «Eine Bekannte, die Botanikerin, hat sie während des Aufstiegs über den Bärentritt entdeckt.»

Durch die vielfältige Flora blüht auch die Fauna auf. Viele der hier wildlebenden Tiere kriegt man aber nur mit etwas Glück zu Gesicht. Andere, wie etwa ein gewisser Schmetterling, der sich während des gesamten Interviews und anschliessendem Essen nicht von meiner Haut entfernen wollte, wird man fast nicht mehr los.

So idyllisch das Leben als Hüttenwart-Paar auch klingt, darf man es nicht unterschätzen. Fünf Monate sind Heidi und Fritz Wenger sieben Tage die Woche rund um die Uhr am arbeiten. Auch den finanziellen Aspekt darf man laut Fritz Wenger nicht unterschätzen, da man als Pächter selbstständig und selbst für sein Einkommen zuständig ist. «Das Leben hier hat wenig Parallelen mit einem geregelten Alltag, es wird grundsätzlich von unseren Gästen gesteuert.»

Um diesen Job als Team zu meistern, gibt es eine klare Arbeitsaufteilung. «Fritz ist für alles rund um die Hütte, wie etwa das Putzen und Reparaturarbeiten zuständig, ich kümmere mich dagegen vor allem ums Essen», erzählt Heidi Wenger. Auch das Einkaufen gehört zu Fritz Wenger Aufgaben. Während die eingekauften Waren mit einer alten Transportbahn nach oben gebracht werden können, muss er dafür jede Woche einmal ins Tal und wieder hinauf wandern. Mittlerweile schafft er den Aufstieg in rund einer Stunde.

Die Zeit in der Doldenhornhütte ist für die Wengers intensiv. Ende Saison seien sie dann jeweils wieder froh, nach Hause zu können, so Heidi Wenger. «Dieses Leben muss man wollen.» Und das tun die beiden, darum kommt Aufhören für sie aktuell nicht infrage. «Wir machen das so lange, bis wir gesundheitlich nicht mehr können oder es uns keinen Spass mehr macht.» Auch in den kommenden Jahren wird man die Wengers also auf der Doldenhornhütte besuchen können. Auf der Hütte für jeden. Für jeden, der sich nicht vom ersten Anstieg einschüchtern lässt.
Hüttengeschichten Gutes Essen, wohltuende Erfrischung und interessante Gespräche: Die Ankunft in einer Berghütte ist nach einer herausfordernden Wanderung genau die richtige Belohnung. Viele schöne Momente erleben Wandervögel und Bergsteigercracks in den Gaststätten hoch in den Alpen. Möglich machen dies die Gastgeberinnen und -geber in den zahlreichen Hütten im Berner Oberland. Wer sind die Hüttenwarte? Wie viel Vorbereitung braucht es, bis ihre Alphütte für Gäste bereit ist? Welche Begegnung war mit Abstand die verrückteste? Welche Delikatessen zaubern sie in den Hütten, viele tausend Meter über Meer? Die Redaktoren dieser Zeitung haben die Wanderschuhe eng geschnürt und sich auf den Weg Richtung Berg gemacht, um ihre «Gwundernasen» in die warmen Stuben über dem Nebelmeer zu stecken. Eine Serie voller spannender Hüttengeschichten wartet auf Sie.