Gina Krückl

Reporterin

«Bin ich hochsensibel?»

Das ganze Jahr sind wir für Sie unterwegs, wir berichten über politisch Relevantes und gesellschaftlich Interessantes. Wir präsentieren Ihnen zum Jahresende Berichte und Reportagen, die uns Redaktorinnen und Redaktoren in diesem Jahr besonders unter die Haut gingen.

Mit der Unterstützung von Heidi Kaderli, Co-Fachleiterin Beratungszentrum Thun Selbsthilfe BE (links), wollte Daniela Wyttenbach die Selbsthilfegruppe «Eltern sein von einem hochsensiblen Kind» gründen.

«Hochsensibel». Als die Medienmitteilung über eine geplante Selbsthilfegruppe der Selbsthilfe Thun Anfang November in meinem Maileingang eintraf, konnte ich mir zwar unter dem Begriff etwas vorstellen, hatte aber noch nie zuvor davon gehört. Das obwohl meine Mutter Dramatherapeutin und meine Schwester Psychologin ist.

Also vereinbarte ich Mitte November einen Interviewtermin mit Heidi Kaderli von der Selbsthilfe Thun sowie Daniela Wyttenbach, Mutter eines hochsensiblen Sohns, und begann mich etwas in die Materie einzulesen. Was gar nicht so einfach war. Zwar ist die Hochsensibiliät weitaus bekannter, als ich zunächst dachte – ein einfache Google-Suche ergab über 2.5 Millionen Treffer. Dennoch ist sie stark umstritten: Während viele Psychologen die Theorie ihrer Berufskollegin Elaine Aron unterstützen, hinterfragen Wissenschaftler die blosse Existenz der Hochsensibilität. Fakt ist, dass es bisher kein physiologisches Verfahren gibt, um eine solche Diagnose zu stellen.

Daniela Wyttenbach ist zweifache Mutter. Ihr älterer Sohn ist hochsensibel.

Also machte ich mich am Morgen des 19. Novembers etwas planlos auf den Weg zur Selbsthilfe Thun. Fast zwei Stunden war ich mit den beiden Frauen im Gespräch, geredet hat vor allem Daniela Wyttenbach. Sie erzählte von ihrem achtjährigen Sohn und wie er im Alter von fünf Jahren die ersten Anzeichen einer Hochsensibilität zeigte. Dass auch sie damals noch nie davon gehört hatte und nicht wusste, was mit ihrem Sohn nicht stimme. Dass auch sie zunächst von einer externen Quelle auf die Hochsensibilität aufmerksam gemacht werden musste, um zu sie bei ihrem Sohn zu erkennen. Und von der Erleichterung, eine Diagnose zu haben und ihrem Sohn helfen zu können.

Ich liess Daniela einfach reden. Ich stellte Fragen, wenn ich etwas nicht verstand, aber ansonsten liess ich sie die Geschichte ihres Sohnes erzählen – und ihre. Im Inneren zuckte ich aber immer wieder zusammen. Fast jedes Mal, wenn Daniela an einem Beispiel erzählte, wie sich die Hochsensibilität bei ihrem Sohn bemerkbar machte, erkannte ich mich selbst darin.

Das erste Treffen der Selbsthilfegruppe «Eltern sein von einem hochsensiblen Kind» soll im Januar stattfinden.

Nach dem Interview liess mich der Gedanke nicht los, also sprach ich mit meinem Umfeld. Einige hatten wie ich noch nie von Hochsensibilität gehört, andere wie etwa meine Mutter und meine Schwester kannten ihn bereits. Nicht wenige von ihnen entdeckten wie ich hochsensible Züge an sich selbst. Natürlich nicht in dem einschränkenden Ausmass, wie es Danielas Sohn tagtäglich erleben muss – glücklicherweise.

Aber dann stellte sich mir die Frage: Wo liegt die Grenze von normalsensibel zu hochsensibel? Bin ich hochsensibel? Wenn es keine Diagnose gibt, wie kann ich diese Frage jemals mit Ja oder Nein beantworten? Dann aber wieder: Brauche ich eine Diagnose? Laut Daniela wisse ihr Sohn zwar, dass er anders ist, verstehe aber nicht ganz, wieso. Muss er das? Muss ich das? Schon bevor ich die potenzielle, noch-nicht-existierende Diagnose Hochsensibilität erhalten habe, hatte ich mein Leben im Griff. Ich habe meine Ticks, weiss aber mittlerweile, wie ich damit umgehen muss und wie ich sie sogar zu meinem Vorteil nutzen kann.

Danke, Daniela.

Das wünsche ich auch Danielas Sohn und all den anderen hochsensiblen oder anderweitig eingeschränkten Menschen. Dass sie ihre Besonderheit nicht nur als Belastung sehen, sondern eine Möglichkeit finden, damit glücklich zu werden. Und falls ich ihnen mit meiner Arbeit irgendwie helfen kann, sei es auch nur, indem ich darauf aufmerksam mache, ist es für mich ein guter Grund weiter zu machen. Darum möchte ich zum Abschluss noch Daniela danken. Dafür, dass sie mir vertraut hat und mir ihre Geschichte erzählt hat. Und die ihres Sohnes.

Den Begriff hat die US-amerikanische Psychologin Elaine Aron in den 1990ern geprägt. Sie spricht von vier Indikatoren für Hochsensibilität: Betroffene haben eine niedrige sensorische Reizschwelle, sie reagieren sehr stark sowie schnell auf verschiedene Reize und verarbeiten sie tiefer – zum Beispiel schwingen Emotionen länger nach. Der letzte Indikator ist, dass sie reizintensive Situationen meiden.

Was ist Hochsensibilität?

Den Begriff hat die US-amerikanische Psychologin Elaine Aron in den 1990ern geprägt. Sie spricht von vier Indikatoren für Hochsensibilität: Betroffene haben eine niedrige sensorische Reizschwelle, sie reagieren sehr stark sowie schnell auf verschiedene Reize und verarbeiten sie tiefer – zum Beispiel schwingen Emotionen länger nach. Der letzte Indikator ist, dass sie reizintensive Situationen meiden.

Für eine Hochsensibilität gibt es mehrere Merkmale. Wenn Sie aber wie ich zur Hypochondrie neigen, sollten Sie vielleicht lieber nicht weiterlesen.

  •  Vielschichtige Fantasie und Gedankengänge
  •  Starke innere Wahrnehmung
  •  Detailreiche Wahrnehmung der Umwelt
  •  Schwierigkeiten beim Umgang mit Stress und Leistungsdruck
  •  Hohe Begeisterungsfähigkeit
  •  Hohe Eigenverantwortung und Wunsch nach Unabhängigkeit
  •  Gutes Einfühlungsvermögen, grosse Empathie
  •  Ausgeprägter Gerechtigkeitssinn
  •  Detaillierte Selbstreflexion und langer emotionaler Nachklang des Erlebten
  •  Schwierigkeiten mit starren Strukturen
  •  Perfektionismus
  •  Intensives Erleben von Kunst und Musik
  •  Harmoniebedürfnis
  •  Starke Beeinflussbarkeit durch die Stimmung anderer Menschen

Weiter Beitrag

Zurück Beitrag

Antworten

© 2025 Gina Krückl

Thema von Anders Norén