In der Schweiz gibt es rund eine Million hörbehinderter Menschen. Einer davon ist Anton Meyer. Der Thuner lebt schon fast sein gesamtes Leben mit dieser Einschränkung, die Maskenpflicht stellt für ihn aber eine komplett neue Herausforderung dar. Im Interview erzählt er, wie er mit der Situation umgeht und wie ihm ein Gesprächspartner dabei helfen kann, ihn zu verstehen.

Jungfrauzeitung: Toni, wie viel hörst du?
Toni Meyer: Ich bin weder Fisch noch Vogel. Ich höre zu viel, um ganz gehörlos zu sein, aber zu wenig, um als schwerhörig zu gelten. Ich liege irgendwo dazwischen.
Ist das der Grund, wieso du keine Gebärdensprache beherrschst?
TM: Genau. Als Siebenjähriger wurde ich zunächst in eine Gehörlosenschule in Münchenbuchsee eingeschult und habe dort eineinhalb Jahre lang die Gebärdensprache erlernt. Dann kam ich aufgrund meiner zu grossen Hörleistung in eine Schwerhörigenschule nach Wabern. Dort war die Gebärdensprache Tabu, weil wir Schüler richtiges Sprechen lernen sollten.

Wie hast du das gelernt?
TM: Wir haben Trommeln benutzt. Beim Anschlagen vibriert das Fell der Trommel und so in etwa fühlt sich der Hals beim Sprechen an. Also habe ich meinen Mund geöffnet und versucht meinen Hals vibrieren zu lassen. So musste ich mir Laut um Laut erarbeiten. Und da ich sehr viel weniger höre als andere Schwerhörige und ich durch meinen Schulwechsel auch noch später mit dem Sprechtraining angefangen habe, war das für mich sehr schwierig.
Monika Meyer: Schwerhörige hören meist nur Vokale, dagegen sind Konsonanten abgesehen von den Nasallauten in der Regel stimmlos. Das heisst für Schwerhörige sind Konsonanten quasi nicht existent. Versuch mal etwas zu verstehen, wenn einzelne Laute nicht ankommen. Und dann gibt es noch die hochfrequenten Vokale wie «I» und «Ü», die sehr schnell weg sind.

Was genau stimmt denn an deinen Ohren nicht?
TM: Als Baby hatte ich eine ganz schlimme Mittelohrentzündung. Aus meinen Ohren floss Blut und Eiter, aber mein damaliger Kinderarzt hat schlichtweg nicht richtig gehandelt. Dadurch wurden die Flimmerhärchen in meinem Innenohr verklebt, welche eigentlich dazu da wären, um Impulse an den Hörnerv zu senden. Leider regenerieren sich diese Härchen nicht. Deren Aufgabe übernimmt nun mein Cochlea-Implantat.

(2): Der Soundprozessor überträgt die digital codierten Signale durch die seitlich am Kopf befindliche Sendespule an das Implantat unter der Haut.
(3): Das Implantat wandelt die digital codierten Audiosignale in elektrische Impulse um und leitet sie an den Elektrodenträger in der Cochlea (die Teil des Innenohres ist) weiter.
(4): Die Implantatelektroden stimulieren den Hörnerven in der Cochlea, von wo aus die Signalimpulse an das Gehirn weitergeleitet werden. Dort entsteht dann eine Hörwahrnehmung.
Quelle: Cochlear
Wie war es, als dir das vor 15 Jahren eingesetzt wurde?
TM: Danach habe ich zum ersten Mal Tritte auf dem Boden gehört. Und das obwohl das Gerät noch sehr tief eingestellt war. Das war wirklich unglaublich.
Und trotzdem bist du noch heute stark auf das Lippenlesen angewiesen.
TM: Genau. Aber ich lese nicht nur von Lippen, sondern auch aus Mimik und Gestik. Wenn ich also das Gesicht einer Person nicht sehe, ist es für mich sehr schwierig sie zu verstehen. Darum ist die Maskenpflicht für mich so schlimm.

Es gibt ja durchsichtige Masken, wären die keine Lösung?
TM: Wenn sie jeder tragen würde, wäre das sicher eine gewisse Hilfe. Aber selbst bei denen kann ich nur die Lippen lesen, das restliche Gesicht und dessen Mimik ist bis auf die Augen bedeckt. Zwar gäbe es komplett durchsichtige Chirurgen-Masken, die sind aber nicht erhältlich. Zudem kosten die guten mit integriertem Filter pro Stück über fünf Franken – und die Kosten werden nicht vom Staat übernommen.
Wie kannst du dich sonst im Alltag verständigen?
TM: Zum einen trage ich eine Maske, die auf meine Hörbehinderung hinweist. Zum anderen habe ich immer eine Karte dabei, auf der die Ausnahmeregelung des BAGs für Menschen mit Hörbehinderung steht. Die erlaubt es Menschen im Gespräch mit jemandem wie mir, die Maske abzunehmen. Und da die Masken ja verhindern, dass ein bereits Angesteckter das Virus weitergibt und ich meine Maske anbehalte, besteht für mein Gegenüber keine Gefahr, wenn dann eher für mich.

Und diese Karte funktioniert?
TM: Erstaunlich gut. Wenn ich etwa auf der Strasse nach dem Weg gefragt wurde und meine Karte vorweise, gingen bisher immer alle Menschen einige Schritte zurück, zogen ihre Maske runter und stellten ihre Frage nochmals.
MM: Leider haben wir es aber auch schon anders erlebt. Besonders in Geschäften und im Spital haben die Angestellte panische Angst davor, ihre Maske abzunehmen. Ich kenne eine Person, die notfallsmässig ins Spital musste, aufgrund der aktuellen Regelung aber keine Begleitperson zum Übersetzen mitnehmen durfte. Und obwohl diese Person nichts verstehen konnte, haben sich die Angestellten geweigert, ihre Masken runterzunehmen. Das ist doch einfach furchtbar.

Wir sitzen nun aber auch ohne Maske hier. Und dennoch hast du manchmal Probleme mich zu verstehen und Monika muss übersetzen.
TM: Weil ich dich nicht kenne. Je besser ich eine Person kenne, desto vertrauter ist mir auch seine Mimik und Gestik und desto besser verstehe ich ihn. Zudem ist dein Ostschweizer-Dialekt für mich sehr ungewohnt und zudem viel zu schnell.
Das heisst, wenn ich hier im Oberland einer schwerhörigen Person begegne, sollte ich mit ihr Berndeutsch sprechen?
TM: Genau: Maske runter, direkt anschauen und Berndeutsch reden. Wenn das nicht geht, hilft es mir auch, wenn du langsam und deutlich Hochdeutsch statt Dialekt sprichst. Und wenn ich dich auch dann noch nicht verstehen kann, hilft es, wenn du den Kopf leicht seitlich drehst, da ich so die Lippen-Bewegungen besser erkennen kann. Oder ganz einfach: Wörter austauschen. Manche Wörter sind für mich schwieriger zu verstehen als andere, daher ist das Verwenden von Synonymen immer eine gute Lösung.
Toni Meyer (65) ist Thun geboren und bis zu seiner Einschulung aufgewachsen. Nun wohnt er mit seiner Frau Monika (63) aber wieder in Thun. Als die gelernte Kauffrau mit Toni das Hörtraining nach dem Einsetzen des Implantats durchlief, war sie so begeistert, dass sie sich vor rund zehn Jahren zur Audioagogin ausbilden liess. Toni als gelernter XX arbeitete gut 46 Jahre bei der Ruag, beziehungsweise bei der K+W und der SW.