Im Mai beginnt das zunächst auf drei Jahre angesetzte Pilotprojekt von «Rêves sûrs», das jungen Menschen in prekären Lebenssituationen einen sicheren Rückzugsort und neue Perspektiven bieten soll. Insbesondere die für Minderjährige geltende Meldepflicht stellte den Verein vor eine grosse Herausforderung.

Ab Frühling wird die Stadt Bern eine Notschlafstelle speziell für Jugendliche und junge Erwachsene haben. Laut Eva Gammenthaler und Robert Sans vom projektführenden Verein «Rêves sûrs – Sichere Träume» soll die neue Einrichtung Anfang Mai ihre Tore öffnen. Ob man diesen Termin aber wird einhalten können, sei noch ungewiss. Während in dem Einfamilienhaus an der Studerstrasse 44 aktuell die nötigen Sanierungsarbeiten laufen, wird bei Rêves sûrs noch an der Organisation gefeilt. Klar ist aber, was in dem von der Stadt Bern gemieteten Haus entstehen soll.
«Gerade junge Menschen in prekären Lebens- oder Wohnsituationen haben einen erhöhten Betreuungsbedarf, und den wollen wir ihnen in Form von einem Schutzraum bieten», so Sans. Auch wenn es kein Wohnangebot ist, heisst das für sie: einen Schlafplatz, Abendessen sowie Zmorge und Sozialberatung. Eine Grundversorgung wird Erwachsenen in prekären Situationen auch in den beiden bereits bestehenden Notschlafstellen der Stadt Bern angeboten, im Passantenheim und im Sleeper. Dennoch gibt es im Vergleich zur neuen Einrichtung einige wichtige Unterschiede.
Einzelzimmer gegen Abhängigkeitsverhältnisse
Während die eingesessenen Einrichtungen mit Mehrbettzimmern ausgestattet sind, warten in der neuen Variante Einzelzimmer auf die Jugendlichen. «Unsere Adressaten bewegen sich oftmals in problematischen Abhängigkeitsverhältnissen zu Personen, bei denen sie unterkommen können», so Sans.
Als wohnungslose Person sei man für einen Schlafplatz von seinem sozialen Netzwerk abhängig. «Das ist bei jungen Menschen meist noch nicht sehr gross und besteht gerade mal aus der Familie und Schulfreunden.» Nicht zu vergessen, wie viel Überwindung es eine Person kostet, um eine Unterkunft zu bitten. Und irgendwann ist auch das grösste und stabilste soziale Netzwerk ausgeschöpft, und man begibt sich in potenziell gefährliche Situationen. Eben solchen können junge Menschen auch in den bestehenden Notschlafstellen ausgesetzt sein.
Zudem wird die neue Notschlafstelle im Gegensatz zu den beiden auf Erwachsene ausgerichteten Notunterkünfte nichts kosten und nicht erst um 22.00 Uhr öffnen, sondern deutlich früher, voraussichtlich bereits um 18.00 Uhr. Während der Gratis-Zugang offensichtlich als elementarer Faktor heraussticht, muss man als Laie bei der früheren Öffnungszeit etwas genauer hinschauen, um deren Wichtigkeit zu erkennen.
«So junge Menschen haben meist eine Tagesstruktur, sei es Ausbildung oder Job», so Gammenthaler. Würde auch die neue Notschlafstelle erst um 22.00 Uhr öffnen, würde den jungen Menschen eine grosse Zeitspanne in ihrer Tagesstruktur fehlen. «So können wir ihnen einen fast nahtlosen Anschluss bieten.»
Kein niederschwelliges Angebot für Minderjährige
Doch der wohl wichtigste Punkt: Sowohl das Passantenheim als auch der Sleeper sind ab 18. «Für Minderjährige gibt es aktuell kein niederschwelliges Angebot, bei dem man sich ohne grossen Aufwand oder Kosten einfach anmelden kann und direkt einen Schlafplatz bekommt», so Gammenthaler.
Stattdessen läuft es so, dass wenn die Gassenarbeiterin am Abend eine 15-Jährige auf der Strasse antrifft und ihr trotz stundenlangen Herumtelefonierens keinen Schlafplatz besorgen kann, sie das Mädchen schliesslich doch alleine auf der Strasse zurücklassen muss. «Das ist ein grauenhaftes Gefühl, denn ich fühle mich verpflichtet, in so Situationen zu helfen. Auch wenn ich das nicht immer kann.»

Nach einer ähnlichen Einrichtung in der Stadt Zürich wird die Berner Notschlafstelle für Jugendliche und junge Erwachsene erst die zweite Einrichtung dieser Art in der Schweiz. Deswegen gibt es nur wenige Vergleichsmöglichkeiten. «Es gibt keine bis wenige Zahlen zum Thema Obdachlosigkeit bei jungen Menschen, deswegen können wir uns nur auf Erfahrungswerte von Menschen abstützen, die in diesem Bereich arbeiten», so Gammenthaler. Vor allem muss der Verein bei der Umsetzung flexibel sein.
Schon jetzt Übernachtungsanfragen
Es sei sehr gut möglich, dass gerade am Anfang einige Betten leer bleiben könnten, so Gammenthaler. Dass das Angebot einer solchen Einrichtung in der Stadt Bern «überflüssig» sein könnte, schliesst sie aus. «Wir sagen schon seit Jahren, dass es uns idealerweise nicht brauchen würde. Das entspricht aber nicht der Realität.»
Dafür spricht auch, dass Rêves sûrs schon jetzt für Übernachtungsmöglichkeiten angefragt wurde, obwohl der Verein noch keine speziell an seine Adressaten gerichtete Öffentlichkeitsarbeit gemacht hat. Das sind aber nicht die einzigen Reaktionen, die Rêves sûrs bisher erhalten hat.

«Wir haben sehr viele positive Rückmeldungen von ehemals Betroffenen erhalten, die wünschten, dass es ein solches Angebot auch zu ihrer Zeit gegeben hätte», so Gammenthaler. Auch sonst hätte sie «sehr selten so viel Rückenwind erlebt» wie bei diesem Projekt. Dementsprechend war auch das Crowdfunding ein voller Erfolg.
Dennoch fehlt laut Sans noch ein Teil der Fremdfinanzierung. Weswegen sie künftig etwa auf Tagessätze der Gemeinden angewiesen seien. «Wir gehen davon aus, dass das sogar ein attraktives Angebot für die Sozialdienste ist, denn mit unserem Angebot können wir schlimmere Verläufe und damit Folgekosten verhindern.»
Meldepflicht versus Niederschwelligkeit
Dass es noch so gut wie keine Notschlafstellen für Minderjährige gibt, könnte möglicherweise auch an der für sie geltenden Meldepflicht liegen. Grundsätzlich haben die jeweiligen obhutsberechtigten Personen über den Aufenthaltsort der Jugendlichen zu entscheiden, weswegen der Aufenthaltsort ihres Kindes mitgeteilt werden muss. Zudem besteht eine Meldepflicht bei Kindesgefährdung an die Behörden. Diese Meldepflicht umzusetzen und dabei gleichzeitig die Niederschwelligkeit beizubehalten, war eine der Herausforderungen, die Rêves sûrs für seine neue Notschlafstelle meistern musste. Wie geht man damit um, wenn eine junge Person eine Meldung an die Behörden so sehr fürchtet, dass sie sich lieber weiterhin in einer Gefährdungssituation bewegt, als Hilfe in Anspruch zu nehmen?
Diese Meldepflicht umzusetzen und dabei gleichzeitig die Niederschwelligkeit beizubehalten, war eine der Herausforderungen, die Rêves sûrs für seine neue Notschlafstelle meistern musste. Wie geht man damit um, wenn eine junge Person eine Meldung an die Behörden so sehr fürchtet, dass sie sich lieber weiterhin in einer Gefährdungssituation bewegt, als Hilfe in Anspruch zu nehmen?

«Wir waren uns von Anfang an einig, dass unsere Notschlafstelle ein niederschwelliges Angebot sein muss und sind sehr idealistisch an die Sache herangegangen», so Sans. Im Laufe der Zeit habe sich das Projekt entwickelt. «Wir mussten uns fragen: Können wir ein solches Angebot überhaupt umsetzen? Denn die Meldepflicht ist da, und auch wir müssen uns daran halten.»
Künftig wolle man mit einer Güterabwägung an solche Fälle herangehen. Bei Härtefällen, also Minderjährigen, die lieber wieder auf die Strasse gehen, als dass eine Meldung gemacht wird, kann mit einer Meldung eine begrenzte Zeit zugewartet werden, um der Gefährdung einer Übernachtung in unsicheren Verhältnissen Abhilfe zu schaffen. «In dieser Zeit geht es darum, Vertrauen zu schaffen.»
Wie häufig Rêves sûrs von dieser Ausnahmeregelung allerdings tatsächlich Gebrauch machen wird, ist fraglich. Laut Sans kommt sie gemäss den Erfahrungen Zürcher Einrichtung nur selten zum Einsatz. «Wenn die Meldepflicht in einem Gespräch erklärt und gleichzeitig nach Lösungen für die Problemsituationen der Jugendlichen gesucht wird, willigen sie meistens ein.» Die Thematik der Meldepflicht und das Spannungsfeld, in dem sich der Verein befindet, wurde mit den zuständigen Behörden besprochen.
Kritik an Ü18
Obwohl die aktuellen Alternativmöglichkeiten offensichtlich besonders für Unter-18-Jährige prekär sind, hat sich Rêves sûrs dazu entschlossen, Jugendliche und junge Erwachsene von 14 bis 23 Jahren aufzunehmen. Und ernten dafür laut Gammenthaler Kritik. «Wir haben zwar von allen Seiten sehr viel Wohlwollen erhalten, doch der Punkt, dass wir die Einrichtung auch für Volljährige öffnen, wurde diskutiert.» Deswegen die Altersfreigabe zu begrenzen, kommt für sie aber nicht infrage.

«Ob jemand ‚erwachsen‘ ist oder nicht, hat nur bedingt mit dem biologischen Alter zu tun, sondern vielmehr mit der Entwicklungsstufe der Adoleszenz», so Sans. Und jeder Mensch entwickelt sich bekanntlich unterschiedlich schnell. Für jemanden, der diese Phase noch nicht hinter sich gebracht habe, sei eine Erwachsenen-Notschlafstelle schlicht nicht der richtige Platz, so Gammenthaler. «Da spielt es keine Rolle, ob eine Person 17,5 oder 18 Jahre alt ist.»